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Die Sammlung des Völkerkundemuseums der Universität Zürich (seit 2023: Völkerkunde?museum) geht auf die Sammlung der 1888 gegründeten Ethnographischen Gesellschaft Zürich zurück. Die Gesellschaft hatte die «Schaffung und Mehrung einer Sammlung für Völkerkunde» zum Ziel, um so «das Gesamtgebiet der Völkerkunde in theoretischer und praktischer Hinsicht zu fördern». Dabei sollte eine Lehrsammlung geschaffen werden, die sowohl «Mittelschulen und Volksschulen in Zürich» ansprechen sollte als auch «commercielle Kreise» – gemeint waren Kaufleute, die in Kolonialgebiete reisten.
Hier beginnt die Sammlungsgeschichte des späteren Völkerkunde?museums, die zunächst vornehmlich eine Geschichte von Männern war. Am 1. Juni 1889 wurde die Sammlung in der Rotunde im ehemaligen Börsengebäude mit etwa 500 Objekten von fünf Sammlern eröffnet: Der Zoologe Conrad Keller (1848–1930) stellte seine Madagaskarsammlung zur Verfügung, die er während einer vom Bundesrat subventionierten Expedition ins östliche Afrika 1886 erworben hatte. Der Linguist und Völkerkundler Otto Stoll (1849–1922) trug seine Sammlung aus Guatemala bei. Hinzu kam die Sammlung des Botanikers, Begründers des Systematischen Botanik und späteren Direktors des Zürcher Botanischen Gartens Hans Schinz (1858–1941), der zwischen 1884 und 1886 den deutschen Kolonialisten Adolf Lüderitz auf einer Expedition in die damalige deutsche Kolonie Südwestafrika begleitete. Die Sammlungsgeschichte wurde 2012 in der Ausstellung «Man muss eben alles sammeln» von Gitte Beckmann und ihren KollegInnen aufgearbeitet. Die Sammlung des Zürcher Astronomen Johann Caspar Horner (1774–1834), der an der Weltumsegelung des dänischen Kapitäns A. J. von Krusenstern 1803–1806 teilgenommen hatte, konnte von der Antiquarischen Gesellschaft übernommen werden. Hinzukam die Sammlung des Missionars Gottlieb Spillmann (1843–1911), der im Dienste der Basler Mission im südindischen Kalikut tätig gewesen war.
Der erste Direktor der Ethnographischen Sammlung Zürich war Otto Stoll (1849–1922; Direktion 1889–1899). Als ausgebildeter Arzt arbeitete er fünf Jahre in Guatemala, wo er sich mit der präkolumbischen wie auch der rezenten Maya-Kultur zu befassen begann. 1883 kehrte er zurück und verfasste eine Habilitationsschrift «Zur Ethnographie der Republik Guatemala». 1884 wurde er an der Universität Zürich Privatdozent für Ethnographie und Anthropologie und 1895 Ordinarius für Geographie.
Im Herbst 1897 wurde die Geographische Gesellschaft Zürich gegründet, die sich 1899 mit der Ethnographischen Gesellschaft zur Geographisch-Ethnographischen Gesellschaft Zürich (GEGZ) zusammenschloss, die heute den Namen Geographie Alumni führt.
Im selben Jahr wurde als neuer Sammlungsdirektor Rudolf Martin (1864– 1925; Direktion 1899–1909) gewählt. Die Wahl eines physischen Anthropologen spiegelte eine im damaligen akademischen Umfeld neue Entwicklung der Autonomie der Disziplinen wieder. Das Konzept umfassender Lehrstühle, an denen zum Beispiel Geographie, Völkerkunde und physische Anthropologie in einem Fach vereinigt waren, begann Ende des 19. Jahrhunderts zu bröckeln. Jede dieser Disziplinen strebte eine unabhängige Stellung im Wissenschaftsgebäude an. Rudolf Martin, der in Philosophie promoviert wurde, wechselte in die Naturwissenschaft und habilitierte sich an der Universität Zürich 1891 für physische Anthropologie. Er überzeugte die Universität Zürich, 1899 ein eigenes Institut für physische Anthropologie mit einem Lehrstuhl zu schaffen, auf den er als Ordinarius gewählt wurde. Sein «Lehrbuch der Anthropologie» aus dem Jahre 1914 war seinerzeit ein Standardwerk über Körpermesstechnik und sogenannte «Rassenanatomie». Die Rolle von Rudolf Martin in der, wie man die Disziplin damals nannte, «Rassenforschunge», seiner Zeit haben HistorikerInnen wie Pascal Germann oder Rea Brändle erforscht.
Im Jahr 1909 übernahm Hans Jakob Wehrli (1871–1941; Direktion 1909–1941) als erster ausgebildeter Ethnologe die Direktion der Sammlung. Der in den folgenden Jahren zunehmende Platzmangel führte dazu, dass die Sammlung dem Kanton Zürich als Geschenk angeboten wurde, mit der Auflage, ihren Charakter als Unterrichtssammlung beizubehalten und sie in geeigneten Räumlichkeiten unterzubringen. Am 13. Dezember 1913 stimmte der Regierungsrat des Kantons Zürich der Schenkung der Ethnographischen Sammlung an die Universität Zürich zu. Als Inhaber des Lehrstuhls für «Geographie mit Einschluss von Völkerkunde und Wirtschaftsgeographie» war Hans Wehrli auch für die Betreuung der «Sammlung für Völkerkunde der Universität» zuständig. Über zweieinhalb Jahre wurden die bis anhin an unterschiedlichen Orten aufbewahrten Ethnographica inventarisiert, bevor Wehrli und seine freiwilligen Helfer die Sammlung im Dezember 1916 erstmals für das Publikum öffnen konnten.
Neben seiner Hauptaufgabe, Geographie zu lehren, galt das Interesse Wehrlis der Religionsethnologie, speziell derjenigen Indiens. In diesen Bereich legte er einen seiner Sammlungsschwerpunkte. Um geeignetes Lehrmaterial zu haben, kaufte er anlässlich einer Indien-Exkursion, die er 1926/27 zusammen mit dem Verleger Martin Hürlimann unternahm, kunsthandwerkliche und religionsillustrierende Gegenstände und liess in Jaipur eigens Götterfiguren aus Marmor für die Zürcher Sammlung herstellen. Anhand dieser Objekte führte er die Studierenden und das breite Publikum auf anschauliche Art in Hinduismus, Buddhismus und Jainismus ein. Am Ende seiner vergleichsweise langen Amtszeit konnte er 1940 mit Unterstützung der langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin Elsy Leuzinger (1910–2010) – Konservatorin an der Sammlung für Völkerkunde 1930–1956, danach Direktorin des Museum Rietberg Zürich – einen Teil der Han Coray-Sammlung von Objekten aus Afrika erwerben.
Der Botaniker und Ethnologe Alfred Steinmann (1892–1974; Direktion 1941–1963) erweiterte als Nachfolger Wehrlis den Sammlungsbereich Indonesien und legte vor allem eine systematische Textilsammlung an. In seine Amtszeit fällt die Schenkung der Sammlung von Alfred Ilg (1954–1916), der 26 Jahre im Dienst des äthiopischen Kaisers Menilek II. tätig war. Alfred Steinmann suchte mit Hilfe seiner weltweiten Beziehungen verstärkt den Kontakt zu anderen Museen und trat 1955 mit der Sammlung für Völkerkunde der «Internationalen Museumskommission» (ICOM) bei.
Nach dem Rücktritt von Alfred Steinmann 1963 setzte sich sein Nachfolger Karl H. Henking (1923–2005; Direktion 1963–1990) für die Schaffung eines Lehrstuhls für Ethnologie und angesichts eines wachsenden Interesses der Öffentlichkeit an den Sammlungen für die Umwandlung der Lehrsammlung in ein öffentliches Universitätsmuseum ein. Diesen Anliegen kam die Philosophische Fakultät 1970 nach. Im Sommersemester 1971 nahm das Ethnologische Seminar unter der Leitung des neuen Ordinarius, Lorenz G. Löffler, seinen Betrieb auf. Karl Henking konnte am 2. Mai 1972 im Hauptgebäude der Universität das nun öffentliche Völkerkundemuseum der Universität Zürich eröffnen.
Dank neu geschaffener Kuratoren- und Dienstleistungsstellen konnte das Museum ein breitgefächertes Programm entfalten. Eigene Sonderausstellungen, studentische Ausstellungen und Übernahmen von Gastausstellungen wechselten sich ab. Dieses Angebot wurde insbesondere durch den neu eingerichteten universitären Ausstellungsdienstes ermöglicht, der ab 1976 die Ausstellungen in den Universitätsmuseen gestalterisch und technisch realisierte. Auch der universitäre Lehrbetrieb in der Ethnologie wurde von Museumsseite erweitert, besonders mit Lehrveranstaltungen und studentischen Projekten in den Fachgebieten Religions- und Kunstethnologie, Ergologie und Technologie, Museologie und Ethnohistorie. Zudem zeichnete sich ab Mitte der 1970er Jahre ein neuer Fokus auf Lehrerfortbildung und weitere museumspädagogische Aktivitäten ab.
Schon bald nach der Eröffnung erwies sich der Standort im Hauptgebäude der Universität als wenig geeignet. Der Kanton fand in den Gebäuden des Alten Botanischen Garten der Universität Zürich einen besseren Standort, nachdem die Botaniker einen neuen und grösseren Botanischen Garten bezogen hatten. Nach zweijähriger Bauzeit mit Renovationen, Um- und Neubauten wurde das Museum im Spätsommer 1979 an seinen neuen Standort verlegt und am 31. Oktober 1980 offiziell eröffnet.
Im Oktober 1990 trat Karl Henking nach 27 Jahren Dienstzeit in den Ruhestand, und ein Jahr später übernahm Michael Oppitz (*1943; Direktion 1990–2008) seine Nachfolge, nun in einer Doppelfunktion als Ordinarius und Museumsleiter. Michael Oppitz hatte als freier Wissenschaftler lange Zeit bei den Magar in Nepal geforscht, wo er unter anderem über Verwandtschaftsverhältnisse arbeitete. Mit dem Film «Schamanen im Blinden Land» erlangte er Weltruhm, mit seinem Buch «Notwendige Beziehungen» etablierte er den französischen Strukturalismus im deutschsprachigen Raum. Für Michael Oppitz war das wissenschaftliche Arbeiten mit Bildquellen ein zentrales Anliegen. Er etablierte am Völkerkundemuseum den Fachbereich Visuelle Anthropologie. Seine fotografische Dokumentation der Schamanen im Himalaya erweiterte die systematisch erschlossene Fotosammlung des Museums.
Nach seinem Rücktritt altershalber im Januar 2008 wurde Mareile Flitsch an die Universität Zürich berufen und noch im selben Jahr als erste Frau im Amt zur neuen Direktorin des Museums gewählt. Mareile Flitsch (*1960) ist Ethnologin mit den Schwerpunkten China und praktisches Wissen. Ihre Übernahme von Professur und Museumsdirektion in Zürich hat die Objektforschung unter eine neue Prämisse gestellt. «Des Menschen Fertigkeit», so der Titel ihrer Antrittsvorlesung, steht im Zentrum ihrer Arbeit. Die Technikethnologie, also das Untersuchen der spezifischen handwerklichen und sozialen Fähigkeiten von Menschen, lenkt den Blick auf das, was Menschen können. Objekte zeugen von solcher Könnerschaft. Deren genaue Untersuchung ermöglicht Staunen und Respekt vor fremder Leistung, verlangt aber auch einen bestimmten Umgang mit den Gegenständen, die solches Wissen in sich tragen und über die Zeit bewahren. Entsprechend wird am Völkerkundemuseum der Verwahrung der Objekte auf lange Sicht grosses Gewicht beigemessen. Dies wirkt sich auch auf das neue Verständnis aus: Aus der ursprünglichen Lehrsammlung wird eine Weltkulturerbe-Sammlung.
Mareile Flitsch etablierte die systematische Aufarbeitung der verschiedenen Archive des Hauses: Objektsammlung, Bild- und Filmarchiv, klassische (Papier-)Archivbestände und ein neu etabliertes Tonarchiv bilden heute die Pfeiler der Museumstätigkeit. In der Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit der Mitarbeitenden und Forschenden spiegelt sich die Ausrichtung des Museums auf eine zeitgemässe Aufarbeitung und nach Möglichkeit kollaborative Erschliessung gemeinsam mit Urhebergemeinschaften sowie die Bewahrung von Wissenskulturen – in den Sammlungen des Museums, in der Geschichte der Zürcher Ethnologie oder in allen Weltgegenden.