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Medienmitteilung

Zürich

Pressetext

»Gestickte Gebete«?

Gebetet wird überall auf der Welt, doch nur ein einziges Volk benützt zum Beten gestickte »Gebetstücher«: die Hazara in Afghanistan, eine ethnische Minderheit schiitischer Konfession, die heute in schwerer Bedrängnis lebt. Ihre Gebetstücher sind ein Identitätsmerkmal der Hazarakultur; trotzdem waren sie bis vor wenigen Jahren ausserhalb ihrer Bergheimat unbekannt. Beten ist intim, und schiitische Muslime tarnen ihre religiöse Besonderheit, wenn sie in einer feindseligen Umgebung leben. (In Afghanistan ist der Islam sunnitischer Prägung Staatsreligion; die Taleban nehmen für sich in Anspruch, den sunnitischen Islam zu vertreten, und verfolgen die schiitischen Hazara.)


In der Ausstellung wird aus einer grösseren Sammlung von rund 900 Gebetstüchern eine repräsentative Auswahl gezeigt. Die ganze Sammlung gehört Verena Frauenfelder, der Gründerin der »Schaffhauser Afghanistanhilfe«. Verena Frauenfelder ist an sich keine Sammlerin exotischer Textilien. Die Sammlung hat sie als persönliches Geschenk empfangen, ein Geschenk, das ihr viele Hazarafamilien aus dem Jhagoridistrikt im Hazarajat gemeinsam machten. Sie wollten damit ihren Dank für empfangene Hilfe ausdrücken. Vielleicht spielte auf Seiten der Hazara auch der Wunsch mit, wertvolle Dokumente ihrer Kultur in einer Zeit der Verfolgung und des Bürgerkrieges an einen sicheren Ort zu senden. (Über Jahre bekam Verena Frauenfelder regelmässig Postpakete aus Afghanistan geschickt, die jeweils Dutzende von Gebetstüchern enthielten.) Denn die Gebetstücher sind in der Tat einzigartige Kulturdokumente, die als vielschichtige Texte zu lesen sind. Sie enthalten Geschichte, Tradition und Wertvorstellungen der Hazara und erzählen von ihrer religiösen Innenwelt in einer Symbolsprache von ungebrochener Aktualität. Die stickenden Frauen schöpfen aus einer gemeinsamen Tradition, und doch ist kein Gebetstuch genau gleich wie das andere. In der Wahl von Farben, Mustern, Stichen und Darstellungsart ist jede Stickerin frei; es gibt wohl ästhetische Gewohnheiten, aber keine festen Regeln. So spiegelt jedes Gebetstuch auch die Individualität der Frau, die es gemacht hat, und die Vielfalt ist entsprechend gross, obwohl der gemeinsame Motivschatz stets erkennbar bleibt. Die Gebetstücher sind zwischen 20 und 100 Jahre alt; einige wenige sind neu und wurden von Mädchen in der Schule gestickt. Durch den rituellen Gebrauch kommt ein Gebetstuch in ständige Berührung mit dem »Gebetsstein«, von dem Baraka, »Segenskraft«, ausgeht. Über die Jahre wird das Tuch mit Baraka allmählich aufgeladen, und deshalb gehören ältere, auch abgenützte Gebetstücher zu den »heiligen Dingen«, die man mit Respekt behandelt.


Die Besitzerin der Sammlung versteht sich als Treuhänderin der Gebetstücher. Sobald in Afghanistan Friede einkehrt, will sie den Hazara ihre Gebetstücher zurückgeben. Einstweilen soll die Ausstellung dazu beitragen, an die Existenz eines bedrohten Bergvolkes zu erinnern. Die Ausstellung wurde vom Völkerkundemuseum der Universität Zürich realisiert. Eine Begleitpublikation über Kultur und Geschichte der Hazara, die von Paul Bucherer (Afghanistan-Archiv, Liestal) und Cornelia Vogelsanger (Völkerkundemuseum) gemeinsam herausgegeben wird, enthält 93 Farbabbildungen von Gebetstüchern und ist im Völkerkundemuseum zu beziehen.