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Wie Strassenhändler in Tansania von unseren alten Schuhen leben
Für uns sind sie wertlos, unsere in Sammelcontainern entsorgten Schuhe. In Tansania sind sie eine begehrte Ware und sichern den Lebensunterhalt Tausender Strassenhändler. Eine neue Ausstellung des Völkerkundemuseums der Universität Zürich gibt Einblick in den Alltag dieser Strassenhändler. Anhand der Begleit-App «Sole City» kann man selbst in die Rolle eines Schuhverkäufers schlüpfen. Die Ausstellung beleuchtet ausserdem den weltweiten Handel mit Altkleidern sowie dessen positive und negative Konsequenzen für die lokalen Konsumenten.
Die Schweizer spenden jährlich etwa 50'000 Tonnen Altkleider. Nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen Ländern Europas werden mehr Kleider und Schuhe abgegeben als karitative Organisationen benötigen. Deshalb übernehmen kommerzielle Unternehmen das Sammeln und Sortieren der Altkleider und verkaufen diese gewinnbringend weiter. Einer der weltweit wichtigsten Abnehmer ist Tansania. Hier hat sich rund um den Handel mit gebrauchten Schuhen ein ganzer Berufszweig gebildet. Die neue Ausstellung «Von alten Schuhen leben – Strassenhändler in Tansania als Experten der Stadt» des Völkerkundemuseums der Universität Zürich liefert einen Einblick in die Arbeits- und Lebenswelt einer Gruppe von Schuhhändlern in der Metropole Dar es Salaam.
Schuhe für Grossmütter oder schicke Schwestern?
Täglich kaufen Hunderte von Strassenhändlern auf dem Karume-Markt in Dar es Salaam Schuhe ein – ab rund zwei Franken das Paar. Wie turbulent es auf diesem Markt zu und her geht, zeigen Videos in der Ausstellung. Besucherinnen und Besucher erfahren, dass der Kaufentscheid den Arbeitstag des Schuhhändlers bestimmt: Soll er flache und stabile «Grossmutter-Schuhe» kaufen? Ältere Kundinnen entscheiden sich zwar schnell für den Kauf, wollen aber wenig zahlen. Oder investiert er sein geringes Kapital in Schuhe für «schicke Schwestern»? Dann muss er sich auf die Suche nach Studentinnen machen. Diese haben ein Faible für hohe Absätze, Verzierungen und glänzendes Material; sie verhandeln ausgiebig, kaufen weniger häufig ein Paar als ältere Kundinnen, aber sie bezahlen mehr als diese. Ebenfalls lukrativ ist für den Strassenhändler ein Schuh «Made in Germany», denn für die Käuferinnen verkörpert Ware aus Deutschland gute Qualität.
Strassenhändler sind Stadt-Experten und Markterschliesser
«Mit dem Griff nach einem alten Schuh auf dem Karume-Markt wird der Strassenhändler zum Akteur einer komplexen Geschichte weltweiter Verflechtungen», erklärt Alexis Malefakis, Kurator der Ausstellung und der Afrika-Sammlung des Völkerkundemuseums der Universität Zürich. Für ihn sind die Strassenhändler auch Stadt-Experten: «Auf der Strasse arbeiten bedeutet nicht, sich dem Zufall oder Glück zu überlassen. Die Händler haben eine sehr spezialisierte Kenntnis der Stadt. Sie wissen wann und wo sie mögliche Kundinnen finden und mit welchen Verkaufstaktiken oder rhetorischen Kunstgriffen sie diese zum Kauf überzeugen können.» Erst durch die erworbenen Kenntnisse und spezialisierten Praktiken der Strassenhändler wird die Strasse für sie zum Markt. «Im Gegensatz zum weltweit gut organisierten Altkleiderhandel, müssen sich die Strassenhändler in Tansania ihren Markt selber erschliessen», sagt Alexis Malefakis.
Selbst in die Rolle des Strassenhändlers schlüpfen
Von alten Schuhen zu leben, ist möglich, aber es ist ein Leben in Armut, ohne jegliche Sicherheit und Zukunftsperspektiven. In der Ausstellung kommen einige Strassenhändler zu Wort, etwa Chedo, der seit 1994 auf den Strassen Dar es Salaams arbeitet: «In unserem Geschäft gibt es keinerlei Gewissheit. Vielleicht verkaufe ich heute etwas, vielleicht auch nicht. Wenn du zwei Tage hintereinander nichts verkaufst, musst du dein letztes Geld aufbrauchen, um die Familie zu ernähren.»
Eine eigene Annäherung an den prekären Alltag dieser afrikanischen Strassenhändler vermittelt «Sole City», ein computerbasiertes Serious Game. Besucherinnen und Besucher können sich als Einkäufer und Verkäufer von Schuhen versuchen und erleben so den Entscheidungs- und Zeitdruck, die Unsicherheiten, Erfolgsmomente und Frustrationen, die den Alltag vieler Strassenhändler prägen. Für die Menschen in Tansania sind unsere abgelegten Schuhe Segen und Fluch zugleich. Aufgrund ihrer geringen oder kaum vorhandenen Einkommen schätzen die Menschen in Dar es Salaam die billige Gebrauchtware aus Europa. Der tonnenweise Import billiger Gebrauchtware hat aber auch negative Folgen für die lokale Produktion von Kleidung und Schuhen. Seit den 1990-er Jahren gingen in Tansania mehrere zehntausend Arbeitsplätze in der Textilindustrie verloren. «Anstatt einer nachhaltigen Beschäftigung nachzugehen, bleiben die Strassenhändler letztlich abhängig vom Konsumabfall der reichen Welt», schliesst Alexis Malefakis.
«Sole City» – die Simulation zur Ausstellung
Das computerbasierte Serious Game «Sole City» lädt Besucherinnen und Besuchern ein, selbst in die Rolle eines Strassenhändlers zu schlüpfen und so die Herausforderungen ihres Berufsalltags zu erleben. «Sole City» ist ein Kooperationsprojekt des Völkerkundemuseums, des tansanischen Fotografen Link Reuben und der österreichischen Künstlergruppe gold extra. Finanziert wurde die Produktion von «Sole City» von der Ernst Göhner Stiftung und dem Agora Programm des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
«Sole City» kann für iOS und Android im Apple App Store und Google Play Store bezogen werden.
Die Ausstellung ist Teil der Manifesta 11 Zürich Parallel Event.